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„Ein Weg wie
hundert Leben“ ist die Geschichte meiner französisch-deutschen Familie aus Lothringen und
dem Schwarzwald des XVIII. Jahrhunderts. Der Entschluss, unsere Familiengeschichte zu erforschen,
gab mir schließlich den Mut, die kleine alte Holzschachtel zu öffnen, in der
meine Großmutter die wenigen übriggebliebenen Photos, Dokumente und Briefe
aufbewahrte. Dabei überwältigte mich die späte Erkenntnis dessen, was wirklich „Trennung“, „Heimweh“, „Entwurzelung“ bedeutet – die Deportation der Großeltern
nach Russland, der Urgroßeltern in den Bărăgan, des Vaters an den Donau-Kanal –
das gespaltene Dasein, das die GESCHICHTE ihrem Leben aufgezwungen hatte. Auch erkannte ich ebenso tiefgründig, dass
man „nach Hause“ zurückkehren kann, auch wenn da kein Haus mehr steht; dass die Kraft des Glaubens und das Überleben des Geistes einen retten, auch
wenn die
Geschichte einem dazu scheinbar keine Chance lässt.
Ein wichtiger Bestandteil des Projekts ist es, die Bilder an möglichst vielen Orten zu zeigen, damit sich die Hauptfiguren zum ersten Mal, symbolisch, frei bewegen können und ihre Geschichte bekannt wird. Bilder aus diesem Projekt wurden bisher in Ausstellungen in Rumänien (Temeswar, Jassy, Arad) und bei internationalen Veranstaltungen gezeigt (Rignac in Frankreich, Evora in Portugal, Madrid und den Kanarischen Inseln in Spanien, Lousã und Candal in Portugal, Klaipeda in Litauen, Denton in Texas/USA, Budapest in Ungarn, Thessaloniki und Veria in Griechenland). Das gesamte Projekt wurde 2013 in Temeswar in der Helios Gallerie, 2014 beim Friedensfestival Sarajevo in Bosnien und Herzegowina und im März 2015 im Stefan-Jäger-Museum in Hatzfeld (Jimbolia) ausgestellt. Die Ausstellung im Teutsch Haus Sibiu wurde am 12 Oktober 2015 eröffnet und kann bis am 15 Januar 2016 besucht werden.
Wurzeln, bis zum Himmel
Über meinen Großvater Renard
Ioan Nicolae wusste ich fast gar nichts. Ich hatte nur ein Foto und ein
Gerichtsprotokoll, das seinen Tod am 24.01.1946 im Arbeitslager Nr.1651 in
Ufalo/Russland feststellte.
Eines Morgens, wie so oft in der
letzten Zeit, dachte ich wieder an ihn. Daran, dass er, obwohl er französischer
Abstammung war, auf die Liste der 68.000 Personen deutscher Herkunft gekommen
war, die im Januar 1945 nach Russland deportiert wurden. Und dass er,
wahrscheinlich vor lauter Hunger, Kälte, Erschöpfung und Schwermut, den Tod
fand.
Plötzlich, als ich mitten in
meinen Gedanken versunken war, schlug eine Taube mit voller Wucht gegen das
Fenster. Das hatte ich noch nie erlebt, und ich frage mich ob es wirklich wahr
sei, dass die Vögel Boten des Himmels seien. Am selben Abend erhielt ich völlig
unerwartet und unverhofft Informationen über meinen Großvater: Fotos aus seiner
Kindheit, Erinnerungen aus einer längst vergangener Zeit... und die Nachricht,
dass er damals im Lager, aus lauter Verzweiflung, Selbstmord begangen hatte.
Die Heimat, weit entfernt
Durch das Jalta-Abkommen im Februar 1945 kam Rumänien unter sowjetischen Einfluss, wodurch sich der Lauf der Geschichte und das Schicksal vieler Familien dramatisch veränderten. Im Januar 1945 wurde mein Großvater mütterlicherseits, 35-jährig, zusammen mit seinen Geschwistern und mit anderen 68.000 Personen nach Russland deportiert. Ein paar Tage nach seinem 43. Geburtstag beging mein Großvater väterlicherseits Selbstmord im Arbeitslager Nr. 1651 in Ufalo in Russland. 1951 war mein Urgroßvater 68 Jahre alt und meine Urgroßmutter 66, als sie zusammen mit 40.320 anderen Personen in den Bărăgan deportiert wurden. Dort mussten sie in einer Erdgrube wohnen, die sie sich gegraben hatten. Mit 18 wurde mein Vater zu vier Jahren Zwangsarbeit am Donau-Schwarzmeer-Kanal verurteilt, wo rund 100.000 Personen unter schwer vorstellbaren Bedingungen jahrelang arbeiten mussten. Als 19-Jährige wurde meine Mutter, wie viele andere Studierende in jenen Tagen, der Hochschule verwiesen. Lebensgeschichten, in einem einzigen Atemzug erzählt... aber so schwer wie die ganze Welt... oder so tief wie der endlose Wald, in dem man seine Wurzeln nicht mehr fühlen und den Himmel nicht mehr sehen kann.
Durch das Jalta-Abkommen im Februar 1945 kam Rumänien unter sowjetischen Einfluss, wodurch sich der Lauf der Geschichte und das Schicksal vieler Familien dramatisch veränderten. Im Januar 1945 wurde mein Großvater mütterlicherseits, 35-jährig, zusammen mit seinen Geschwistern und mit anderen 68.000 Personen nach Russland deportiert. Ein paar Tage nach seinem 43. Geburtstag beging mein Großvater väterlicherseits Selbstmord im Arbeitslager Nr. 1651 in Ufalo in Russland. 1951 war mein Urgroßvater 68 Jahre alt und meine Urgroßmutter 66, als sie zusammen mit 40.320 anderen Personen in den Bărăgan deportiert wurden. Dort mussten sie in einer Erdgrube wohnen, die sie sich gegraben hatten. Mit 18 wurde mein Vater zu vier Jahren Zwangsarbeit am Donau-Schwarzmeer-Kanal verurteilt, wo rund 100.000 Personen unter schwer vorstellbaren Bedingungen jahrelang arbeiten mussten. Als 19-Jährige wurde meine Mutter, wie viele andere Studierende in jenen Tagen, der Hochschule verwiesen. Lebensgeschichten, in einem einzigen Atemzug erzählt... aber so schwer wie die ganze Welt... oder so tief wie der endlose Wald, in dem man seine Wurzeln nicht mehr fühlen und den Himmel nicht mehr sehen kann.
Aus
Russland, mit Liebe
Meine Großmutter bewahrte mit großer Sorgfalt die Briefe
aus der Russlandgefangenschaft meines Großvaters in einer kleinen Holzschachtel mit einem gemalten Deckel. Es fiel mir
sehr schwer zu entscheiden, ob ich es wagen durfte, Zeilen zu lesen, die nicht
an mich adressiert waren, oder ob ich sie nicht doch lieber für immer dort
eingeschlossen lassen sollte. Ich fand den Abschiedsbrief meines Großvaters, in
großer Eile am Tag seiner Deportation nach Russland geschrieben; Postkarten auf denen die Tinte längst verblasst war aber die Farbe des
Stempelabdrucks „ZENSIERT“ die gleiche Intensität wie am ersten Tag behielt;
ein Foto aus dem Lager, auf dem nur noch die Augen meines einst so hübschen
Großvaters lebendig waren; Briefe auf ein so dünnes Papier geschrieben, dass
die Buchstaben von einer Seite auf die andere durchschienen und eine neue, fast
unverständliche Schrift bildeten; kleine, aneinandergenähte, eng beschriebene
Papierstückchen, damit möglichst viele Gedanken ihren Weg zu meiner Großmutter
fänden. Ich erfuhr, dass „Skoro domoj“ auf Russisch „bald nach Hause gehen“
bedeutet und dass diese Worte immer wieder ausgesprochen wurden, in der
Hoffnung, dass sie bald wahr würden. Und ich verstand, dass unter Umständen das
Beschaffen von Papier, um nach Hause zu schreiben, zur schwersten Lebensaufgabe werden konnte.
Lebewohl.
Für immer.
Triebswetter, 18. März 1955.
Meine Großmutter Aurelia Prinz nimmt Abschied von ihrem Vater, Dominic Haman. Nach vier Jahren Deportation in den Bărăgan, des Hauses, der Fabrik, des Besitzes enteignet, waren meine Urgroßeltern gezwungen, Rumänien für immer zu verlassen. Obwohl mein Urgroßvater noch bis 1964 lebte, wurde es meiner Großmutter verwehrt, ihn jemals wiederzusehen.
Triebswetter, 18. März 1955.
Meine Großmutter Aurelia Prinz nimmt Abschied von ihrem Vater, Dominic Haman. Nach vier Jahren Deportation in den Bărăgan, des Hauses, der Fabrik, des Besitzes enteignet, waren meine Urgroßeltern gezwungen, Rumänien für immer zu verlassen. Obwohl mein Urgroßvater noch bis 1964 lebte, wurde es meiner Großmutter verwehrt, ihn jemals wiederzusehen.
Notre Père, Vaterunser, Miatyánk, Tatăl Nostru, Pai Nosso
Meine Mutter erinnert sich, dass sie als Kind das Vaterunser auf Französisch lernte. In Triebswetter betete man auch deutsch, ungarisch und rumänisch... aber diejenigen, die ihre Wurzeln noch tief in ihrer entfernten Heimat fühlten, taten es auf Französisch. Ihre Ahnen hatten Lothringen im Jahr 1770 verlassen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben im unbekannten und weit entfernten Banat. Sie setzten Triebswetter für immer auf die Landkarte und wurden von der Geschichte ihrer neuen Heimat umso stärker und für immer geprägt. Der Gedanke an „die Heimat“, die man endlich finden oder wiederzufinden hoffte, auf einem Weg so lang wie hundert Leben, hat in den schwersten Stunden weitergeholfen: auf der Reise im Schwabenzug ins unbekannte Banat; in den Kriegsjahren, als man nichts sehnlicher wünschte, als dass die Männer der Familie unversehrt heimkehrten; in der Kälte Russlands, im Staub des Bărăgans, auf den Felsen des Donau-Schwarzmeer-Kanals. Man konnte sich von seinem Körper lösen, tief in sein Inneres tauchen, hoffen und das Vaterunser beten... französisch, deutsch, rumänisch ... egal in welcher Sprache. Wichtig war, dass es immer wieder geholfen hat, wo immer man sich auch befand.
Link zur TVR Sendung in deutscher Sprache (mit rumänischen Untertiteln)
ab min. 32:45
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